HerzArzt – Prolog
Prolog von Dr. 2002
Es war der Sommer 1996 und uns schien alles möglich.
Wir waren jung. Zu jung vielleicht um die Tragweite der Gedanken und Entscheidungen zu verstehen, die uns tagtäglich beschäftigten. Daher muss man froh sein, dass wir nicht konstruktiv waren. Keiner hat versucht, seine Physikkenntnisse in eine unerschöpfliche Energiequelle zu bannen die nebenher ganze Landstriche dem Erdboden gleichmachen konnte, wir haben keine Medikamente erfunden die zwar Krebs heilen aber die Ureinwohner Südamerikas gleichzeitig ausrotten und zum Glück fingen wenig ernsthafte Sätz an mit ‚Wetten dass du dich nicht traust…‘ oder ‚Halt mal kurz mein Bier…‘
Aber wir waren uns zumindest einig. Dieser Sommer sollte es werden. Der Sommer aller Sommer, der Prototyp DES Sommers überhaupt.
Das war nicht etwa ein beliebiger Sommer in irgendeinem Jahr, nein! Es war quasi das numerische Anagramm zu Bryan Adams großen Klassiker ‚Summer of 69‘ und das spornte unsere Phantasie zu wahren Höchstleistungen an.
Brandon Walsh war mein großes Vorbild und es stand außer Frage, dass die Zukunft nur Großes mit uns vorhaben konnte. Wir standen an der Schwelle zum erwachsen werden und voller Motivation und Tatendrang galt für uns ‚only the sky is the limit‘.
Es war das Jahr in dem die Fugees ‚Killing me softly‘ sangen und sich Roland Emmerichs ‚Independence Day‘ in die Liste der besten Filme aller Zeiten katapultierte. Es war klar, dass dies nichts weniger als der Anfang des glamourösen Rests unseres Lebens war.
Da standen wir also. Jung, wild und frei. Genug Talent um alles zu erreichen. Die Sonne im Gesicht und den Wind im Rücken.
Jeder hatte seine Pläne und Träume.
Der Weg, den ich mir ausgesucht hatte mochte lang und steinig sein, aber er war es wert zu gehen: Ich wollte Arzt werden!
Es war der Sommer 1996 und uns schien alles möglich.
Kontralog von Dr. 2011
Willkommen in der schönen neuen Welt.
Wann hat das alles angefangen? Lassen Sie mich überlegen. Ja, in so einer gefühlsduselig romantischen Sommernacht in den 90ern. Da hatten wir doch alle noch gedacht, die Welt gehöre uns.
Es sind 15 Jahre vergangen. Es ist wieder mitten in der Nacht und ich sitze in der Notaufnahme eines kleinen Krankenhauses im Süden Deutschlands. Nicht etwa weil ich das unglaubliche Glück habe, so krank zu sein, dass ich am Montag nicht arbeiten muss. Scheisse nein! Ich arbeite hier .
Ich habe all die Motivation und das Talent von damals genommen und wusste damit nichts besseres anzufangen als Arzt zu werden. Kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit irgendwelchen Sprüchen dass das doch ein riesiger Erfolg sei. Sie habe leicht reden, weil Sie ihren frühen Sonntagmorgen nicht in einer Notaufnahme verbringen, in die es ständig Leute verschlägt die am Montag nicht arbeiten gehen wollen. Bitte einmal den gelben Urlaubsschein für 10 Euro. Danke.
Jetzt könnte man sich berechtigterweise fragen, was schief gegangen ist.
Nun, ich bin weder reich noch berühmt geworden, das ist schief gegangen. Es sind lediglich 15 Jahre vergangen, keine Sau interessiert sich heute mehr dafür, wer Brandon Walsh war und wir zahlen allen Ernstes zeitweise 1 Euro 50 für den Liter Diesel.
Also nochmal die Frage: was ist schief gegangen?
Nüchtern betrachtet war bereits die Grundannahme, 1996 sei ein gutes Jahr um die Zukunft zu beginnen, ein furchtbarer Irrtum. Retrospektiv war das Jahr eine Katastrophe.
1996. Der Feldhamster war das Tier des Jahres, Ella Fitzgerald und Francois Mitterand sind gestorben und Bill Clinton wurde wiedergewählt. Glückwunsch auch.
Wenigstens haben sich „Take That“ aufgelöst.
Leider war nicht mal das von Dauer.
Willkommen in der schönen neuen Welt.
Medialog von Dr. 2020
Einfach mal cool bleiben.
Ja, das ist es tatsächlich. Das Resümee aus über 20 Jahren Gesundheitswesen. Zugegeben, 1996 war nicht der Bringer. Vielleicht war das auch ganz gut so, denn hätten wir uns damals die Zeit genommen, den Text von ‚Summer of 69‘ zu verstehen anstatt nur mitzugröhlen (überwiegend falsch), dann wäre uns aufgefallen, dass beim Protagonisten im Song NACH diesem magischen Sommer mal alles in die Binsen gegangen ist, was nur schief laufen kann …hast du kein Auto und hast du kein Haus, dann hast du keine Frau und so siehts aus…
Von dem her sind wir doch einfach mal froh, dass 1996 das Wetter nett aber nicht phantastisch war, die Hits waren cool aber keiner davon hat die Musikgeschichte für immer verändert und es sind wie jedes Jahr Menschen gegangen und andere sind auf der Bildfläche aufgetaucht.
Ok, die spätere Reunion von ‚Take That‘ trifft mich auch heute noch hart, aber über das schlimmste bin ich mit den Jahren hinweg gekommen.
Und ich habe dann doch noch festgestellt, dass die Sache mit der Medizin ganz witzig sein kann, wenn Sie versuchen die Idiotendichte um sich herum zu minimieren. Hausarzt ist deswegen ein echt cooler Job. Sie machen etwas wichtiges, die meisten Ihrer Patienten schätzen Ihre Arbeit und die Kollegen, die immer abfällig über Sie reden sind eigentlich nur neidisch auf Ihre freien Wochenenden.
Fast 25 Jahre nach dem leider nur durchwachsenen Sommer von 1996 muss ich eingestehen, es hätte alles auch viel schlimmer kommen können.
Letztendlich ist das Leben so wie das Surfen: alles was mehr als 500 Meter vom Strand entfernt passiert, ist per Definition völlig unwichtig. Sie müssen nur wissen, wo Ihr Strand ist.
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